Hintergrund der kontroversen Diskussion um Krankheitsresistenzen ist die Erfahrung, dass erfolgreiche Praxissorten häufig nicht die gesündesten sind. Das galt früher für Kanzler oder Ritmo, gegenwärtig für Akteur, JB Asano oder Anisette und künftig für die Weizensorte Tobak oder die Turbohybriden bei Roggen. Der Vorwurf vieler Berater und Praktiker an die Züchter: Mit immer noch gesünderen Sorten blieb die Ertragsleistung auf der Strecke – zumindest bei praxisüblicher Anbauintensität!
Ertragsfortschritt im Exaktversuch
Dieser Vorwurf lässt sich jetzt eindeutig entkräften: In einem „Exaktversuch zur Ermittlung des Zuchtfortschritts bei Winterweizen“– koordiniert von der Universität Gießen – wurden 90 verbreitete Weizensorten der letzten 40 Jahre(!) direkt miteinander verglichen. Von Diplomat und Caribo über Kanzler und Ritmo bis hin zu Mulan und Neuzulassungen. Auch die SAATEN-UNION beteiligte sich mit ihrem Versuchsstandort Moosburg und dem Prüfnetz der Nordsaat Saatzucht an diesem Projekt. Das Ergebnis von 10 Exaktversuchen 2009 und 2010: jährlich im Mittel 0,38 dt/ha mehr Korn in der extensiveren Stufe 1, 0,34 dt/ha in der intensiveren Stufe 2 (s. Abb. 1).
Es gibt ihn also doch, den Zuchtfortschritt! Ohne diesen würden wir heute nicht 90, sondern 75 €dt/ha ernten, wie die grüne Regressionsgerade belegt! Zudem besitzen die jüngeren Sorten eine bessere Backqualität, Strohstabilität und Krankheitsresistenz. Erst letztere ermöglichen eine höhere Anbauintensität als in den Sortenprüfungen. Enge Fruchtfolgen etwa, gepaart mit Frühsaaten oder eine sehr hohe N-Düngung wären mit langen, anfälligen Sorten nicht zu machen!
Und wo bleiben die Praxiserträge?
In der Praxis hingegen entwickeln sich die Getreideerträge seit der Jahrtausendwende nicht mehr eindeutig: Die Ausschläge nach unten und oben nehmen zu, der Aufwärtstrend flacht sich auf sehr hohem Niveau ab (s. Abb. 2)! Die Ursachen für die Ertragsausschläge sind komplex, drei Aspekte sind besonders wichtig:
- Der sehr steile Ertragsanstieg in den 80er und 90er Jahren war auch Resultat eines deutlich gestiegenen Pflanzenschutz- und Düngungsaufwands. In den vergangenen Jahren wurde die Anbauintensität aus wirtschaftlichen und politischen Gründen nicht weiter gesteigert. In einigen Bereichen war sie sogar rückläufig, etwa bei der Bodenbearbeitung.
- Die Klimaerwärmung und häufigeren Witterungsextreme schaden den kühletoleranten, frühräumenden C3-Kulturen mehr als der wärmeliebenden C4-Kultur Mais. Mais und Hackfrüchte leiden weniger unter der zunehmenden Frühjahrs- und Frühsommertrockenheit und profitieren von den ergiebigeren Sommerniederschlägen.
- Bei Winterweizen und -roggen streuen die Praxiserträge am stärksten. Dabei ist zu berücksichtigen: Immer mehr Weizen steht in Selbstfolge und zudem wächst die Anbaufläche seit 1995 hauptsächlich auf schwächeren Standorten. Dort wiederum wurde der Roggen auf die ertragsschwächsten Böden mit der geringsten Wasserkapazität zurückgedrängt.
Kompromissloser auf Ertrag setzen!
Will sich der Getreideanbauer diesem Ertragstrend entziehen, kann er bei der Sortenwahl kompromissloser auf Ertrag setzen, muss dabei jedoch die eine oder andere Schwäche in Kauf nehmen. Denn ein neues, höheres Ertragsniveau ist (zunächst!) mit züchterischen Zugeständnissen verbunden! So lässt sich durch Halbzwerggene das Ertragspotenzial des Weizens erhöhen. Schon aufgrund der dichteren Kornanlagen und den damit verbunden verstärkten Abortionsvorgängen ab der Blüte, steigt damit jedoch das Fusariumrisiko.
Beispiele für eine ertragsorientierte Sortenwahl 2011:
Wintergerste:
Ertragssiegerin bei den Zweizeilergersten war in den letzten Jahren die Zweizeilersorte Anisette. Bundesweit übertraf sie alle bisherigen Ertragsrekorde und erreicht als erste Sorte ihrer Art das Ertragsniveau der Mehrzeiler! Diese außergewöhnliche Leistung ist verbunden mit einer fehlenden GMV-Immunität. Einen Nachteil hat der Landwirt auf den empfohlenen Standorten nicht, denn dank der enormen Vitalität kommt es auch auf Befallsstandorten kaum zu Ertragsdepressionen.
Winterroggen
Die ertragreichsten Stämme in den Wertprüfungen übertreffen die marktführende Verrechnungssorte Visello um 11 % und mehr. Zurückzuführen ist diese Mehrleistung auf die zurückhaltende Nutzung des Iran-IV-Gens. Dieses erhöht zwar die Pollenschüttung, verringert jedoch den Ertrag und die Ertragssicherheit. Die neue Sortengeneration vermeidet diese negative Genkopplung und nutzt für die volle Bestäubung einen Mischungspartner. Dessen „fremder“ Pollen kann zusätzliche Heterosis generieren – deshalb der Begriff „Turbohybriden“.
Winterweizen
Mit Abstand die ertragsreichste deutsche Weizensorte ist die Neuzulassung Tobak. Diese bringt 3–5 % höhere Erträge als die ertragreichsten Futterweizen – bei einer Mahl- und Backqualität auf A-Niveau (s.S.6). Denn höhere Erträge sind zwar mit geringeren Proteingehalten verbunden (deshalb die B-Einstufung), dies kann jedoch züchterisch durch hochwertigere Proteinfraktionen kompensiert werden. Einziger Mangel dieser ansonsten völlig problemlosen Sorte ist die knapp-mittlere Fusariumresistenz. Diese ist bei der Standortwahl, der Fruchtfolgestellung und der Ährenbehandlung zu berücksichtigen.
Sicherheit oder Rendite?
Resistenzzüchtung setzt nicht wie eingangs erwähnt „aufs falsche Pferd“, allerdings auch auf kein Rennpferd! Es dauert Jahre, bis eine neue Resistenzquelle über Rückkreuzungen von allen unerwünschten Begleitmerkmalen befreit ist, manchmal gelingt das nie vollständig. Weniger gesunde Sorten sind nicht grundsätzlich ertragreicher, eilen jedoch den resistenteren oft ertraglich um einige Jahre voraus. Diesen Vorsprung kann man nutzen. Am Anfang steht dabei immer eine Chance/Risiko – Abwägung. Hysterie ist hierbei ein schlechter Ratgeber, es geht vielmehr um die wirtschaftlichste Lösung. Dies kann auch bedeuten, Resistenzlücken einer Sorte zu tolerieren und durch andere Maßnahmen auszugleichen. Höhere Erträge sind meist mit bestimmten Nachteilen verbunden, das Maximum an Sicherheit kostet umgekehrt Ertrag. Die richtige Balance zwischen Ertrag und Sicherheit zu finden – angepasst an die Situation vor Ort – ist jedes Jahr aufs Neue die vornehmliche Entscheidung bei der Sortenwahl.
Die zentralen Zuchtziele Ertrag, Qualität und Resistenz kann man sich als Schenkel eines variablen Dreiecks vorstellen (Abb. 2). Die eingeschlossene Fläche repräsentiert den Zuchtfortschrit. Sorten mit Bestwerten in allen Disziplinen gibt es nicht. Deshalb gibt es Sortentypen für unterschiedliche Regionen, Anbauvoraussetzungen und Betriebsleiterpersönlichkeiten!
Sven Böse
**„Aufs falsche Pferd gesetzt?“ Dr. Joachim Holz, LK NRW, Saatgut-Magazin Sommer 2007