Optimale Infektionsbedingungen für den Mutterkornerreger Claviceps purpurea liegen in erster Linie bei feuchten und kühlen Witterungsbedingungen rund um die Blüte vor. 2022 waren die Witterungsbedingungen in diesem Zeitraum jedoch meist warm und trocken. Aus der Praxis wurde trotzdem von sortenunabhängig (!) hohen Mutterkornbelastungen berichtet. Interessanterweise gehörten dazu auch Sorten, die laut Bundessortenamt mit guten Mutterkornbewertungen eingestuft sind. Auch die Ernteproben der Besonderen Ernteermittlung zeichnen einen deutlichen allgemeinen Anstieg der Mutterkornbelastung im Vergleich zum vorangegangenen Jahr, wobei hier ebenfalls kein Zusammenhang zwischen Sorten und Mutterkornbefall einzelner Ernteproben erkennbar ist.
Wissenschaftlich belegt: Unter natürlichen Praxisbedingungen sind Sortenunterschiede nicht erkennbar!
Diese Erkenntnisse werden durch die kürzlich von Prof. Bernd Hackauf vom Institut für Züchtungsforschung an landwirtschaftlichen Kulturen am Julius-Kühn-Institut (JKI) veröffentlichten Ergebnisse bestätigt (Abb. 1). In seinem wissenschaftlichen Artikel* verglich Hackauf die offiziellen Mutterkornbonituren polnischer Landessortenversuche (PDO) von verschiedenen Sorten unterschiedlicher Züchter unter natürlichem Befall im Feld. Über einen Zeitraum von fünf Jahren gab es unter natürlichen Feldbedingungen zwischen den einzelnen Jahren deutliche Unterschiede in der Intensität des Befalls mit Mutterkorn, vergleichbar mit den deutlichen Jahresunterschieden in den Proben der BEE. Jedoch konnte er keine systematischen Unterschiede im Mutterkornbefall zwischen Sorten einzelner Züchter unter praxisnahen Bedingungen nachweisen.
Sind Ergebnisse künstlicher Infektionen aussagekräftig?
Diese Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis werfen die Frage auf, inwiefern die offiziellen Ergebnisse aus Versuchen mit künstlichem Befall ein realistisches Abbild der landwirtschaftlichen Praxis in Deutschland sind. Mit den heutigen Erkenntnissen und den Beobachtungen aus der Praxis sind große Zweifel an der Aussagefähigkeit der derzeitigen Methodik der Sortenprüfung auf die Mutterkornanfälligkeit in offiziellen deutschen Prüfungen berechtigt.
(Mit)-Ursache: Trockenheit und später Regen
Natürlich sind Infektionsbedingungen regional unterschiedlich. Trotzdem soll hier über mögliche Gründe diskutiert werden. 2022 war möglicherweise die ausgeprägte Trockenheit ein wesentlicher Infektionstreiber. Der induzierte physiologische Stress könnte zu einer reduzierten Pollenbildung geführt haben und somit stand weniger Pollen für eine ausreichende Bestäubung zur Verfügung. Aufgrund regionaler Regenschauer kam es vor der Blüte an solchen Standorten zur Bildung von Nachschossern. Nachschosser profitieren durch ihre Position innerhalb des Bestandes und durch ihre spätere Blüte gegenüber dem restlichen Bestand weniger von der hohen Pollenmenge während der Hauptblüte. Dies begünstigt das Auftreten von Mutterkorn insbesondere bei Nachschossern und kann zu erhöhten Mutterkorngehalten geführt haben.
Die problematisch wird die Absenkung der Grenzwerte?
Die Grenzwerte für Mutterkorn in der unbehandelten Rohware sollen zum 01.07.2024 auf von 0,5 auf 0,2 g/kg gesetzt werden. Neu hinzukommen sind die Grenzwerte für Mutterkornalkaloide, die in der nun geltenden Verordnung mit 500 μg/kg festgelegt wurden und im nächsten Schritt auf 200 μg/kg in 2024 verschärft werden sollen. Vermahlene Produkte aus Weizen, Gerste, Dinkel und Hafer dürfen je nach Verarbeitungs- und Verwertungsgrad bis zu 150 μg/kg enthalten. In Gesprächen mit der verarbeitenden Industrie kristallisierte sich heraus, dass die neuen Grenzwerte durch den Einsatz von Farbsortierern einhaltbar wären. Das Problem jedoch ist, dass die Grenzwerte für unverarbeitete Rohware gelten, die Farbsortierung jedoch bereits einen Verarbeitungsschritt darstellt. Somit würde ein Einsatz von Farbsortierern eine gute Reinigung erlauben, hätte trotz hoher Effektivität jedoch keinen Einfluss auf die Einhaltung der Grenzwerte.
Ab diesem Jahr gelten bereits die Grenzwerte für Mutterkornalkaloide. Die verarbeitende Industrie berichtet bisher jedoch höchstens in Einzelfällen von Problemen mit Mutterkornalkaloiden. Für diese Alkaloide gibt es zurzeit gar keine Nachweismethoden, die in der Schnelligkeit und Handhabung vergleichbar mit denen der Probenbewertung auf den Mutterkorngehalt wären. Da die Alkaloidgehalte in Mutterkörnern stark variieren können, lässt der Gehalt an Mutterkornsklerotien keinen Rückschluss auf den Gehalt an Alkaloiden in einer Partie zu. Um den gesetzlichen Rahmenbedingungen Folge zu leisten, bedarf es hierzu weiterer Forschung zur Entwicklung eines schnellen und einfach umsetzbaren Verfahrens zur Mutterkornalkaloidanalytik.
*Quelle: Hackauf, B.; Siekmann, D.; Fromme, F.J. Improving Yield and Yield Stability in Winter Rye by Hybrid Breeding. Plants 2022, 11, 2666